Erinnert Ihr Euch noch, wie ich mal mein Kind fallen gelassen habe? Ich dachte, das sei das Schlimmste, was mir je passieren würde.
Nun denn, inzwischen wurde ich eines Besseren belehrt.
Als wir mit Minime nach seinem zweiten Geburtstag bei der Routineuntersuchung beim Kinderarzt waren, schaute er sich die Ohren an und empfahl uns, einen HNO-Arzt aufzusuchen. Dieser schaute sich Minimes Ohren an und seufzte schwer. Da sei Flüssigkeit hinter seinem Ohr. Wir ließen einen Hörtest machen, diesen mit „Wellen“ (also noch nicht mit PIEP und Händchen hoch heben). Der Arzt meinte, auf dem einen Ohr könnte Minime kaum hören.
Wir waren baff. Abends, zu Hause saß ich mit Minime in seinem Zimmer. Er auf seinem Bett, in ein Wimmelbuch vertieft. Ich am anderen Ende des Zimmers. „Gum-mi-bär-chen“ flüssterte ich. Minime blickte mit glänzenden Augen auf. „Bummiwärchen?“ rief er. Also wenn ihr mich fragt, Hören konnte er einwandfrei. Drei Monate später gingen wir noch mal zum HNO-Arzt. Zur Kontrolle. Er seufzte wieder schwer und stellte die gleiche Diagnose. Er wolle noch nicht unken, sagte er, aber wenn das in drei Monaten immer noch so sei, würde er uns empfehlen, Paukenröhrchen einsetzen zu lassen und die Polypen zu entfernen. Das Kind sei ja fast taub (auf einem Ohr).
Ehrlich. Meine Alltagswahrnehmung spiegelte das NICHT wieder. Klar hörte er nicht immer gut. Worte wie aufräumen, anziehen, Zähne putzen schienen schwer verständlich. Auf andere Worte und Sätze reagierte er besser. Nichts, was andere Eltern nicht auch kennen.
Beim nächsten HNO-Besuch bekamen wir dann die Empfehlung für die OP und wurden zu dem operierenden Arzt geschickt. Auch dieser wartete noch mal drei Monate ab, aber dann wurde der Termin für die OP gesetzt.
Das ist jetzt über ein Jahr her. Aufräumen, anziehen und Zähne putzen versteht er immer noch nicht besser. Aber er machte einen deutlichen Schub in der Sprachentwicklung (den er vielleicht sowieso gemacht hätte?). Jedenfalls: Ohne den Arztbesuch wäre keinem von uns Eltern, auch den Erzieherinnen und Großeltern und sonst niemandem aufgefallen, dass Minime auf einem Ohr zu dem Zeitpunkt fast taub war.
Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende:
Bei der Untersuchung zu seinem 4. Geburtstag sprach mich die Ärztin auf sein leichtes Schielen (das insbesondere dann zu Tage trat, wenn er müde war) und überwies uns zur Augenärztin.
Bei der Anmeldung der Praxis gab es so Geräte, in die man reingucken musste. „Oh, der Wert kann nicht stimmen“ sagte die Arzthelferin und stellte das Gerät ein. Noch mal schaute Minime rein, aber der Wert änderte sich offensichtlich nicht. „Hm, irgendwas stimmt mit dem Gerät nicht“ wiederholte die MFA. Ich dachte mir nichts dabei.
Wir wurden ins Behandlungszimmer der Orthoptistin geschickt. Sie gab Minime ein Kärtchen mit 4 Symbolen und hielt selber einen Stapel mit Karten in der Hand, auf der jeweils eines der Symbole auf dem Kärtchen abgebildet war. Sie ging in immer größeren Abstand zu Minime und fragte ihn, was er auf ihrer Karte sehe und er musste das dann auf seinem Übersichtskärtchen zeigen. Da ich auch noch Cashew dabei hatte, der das Untersuchungszimmer auseinanderkam, ließ ich ab hier die Fachkraft und Minime alleine und ging mit dem Kleinen ins Wartezimmer.
Als die Orthoptistin uns wieder rein bat fühlte ich einen Blick, der totales Unverständnis, ja fast Entsetzen zeigte. So a la „Da müssen wir das Jugendamt informieren…“ Puh. Also Fakt ist, Minime ist seeehr weitsichtig, auf beiden Augen +7 Dioptrin. Und auf dem einen Auge hat er auch nur 50% Sehkraft und auf dem anderen weniger als 10%.
Könnt ihr Euch das vorstellen? Wir leben vier Jahre mit Minime zusammen und merken NICHTS? Erinnert Ihr Euch noch an die Szene weiter oben in diesem Text? Minime liebte von kleinauf Bilderbücher, je mehr auf den Bildern zu sehen war, ums o besser. Wimmelbücher sind heiß begehrt. Er konnte alles wiedergeben, was dort zu sehen ist. Und de facto sollte er fast blind sein? Ich saß mit sehr offenem Mund da und musste das erst mal verkraften. Plus 7 Dioptrin ist jetzt auch nicht mehr das, was sich mit dem Alter auswächst.
Seit Juli hat Minime eine Brille. Bei der Kontrolle vor zwei Monaten ist die Sehkraft auf dem einen Auge bei 100% angekommen (YEAH) und auf dem anderen immerhin bei ca. 20%. Damit dieses Auge jetzt noch trainiert wird, bekommt er Pflaster, die er täglich 5 Stunden auf dem guten Auge trägt.
Er kommt mit Beidem sehr gut zurecht, was mich sehr erleichtert. Aber ich komme trotzdem nicht drüber weg, dass ich nichts bemerkt habe (die einzige Entschuldigung: auch die anderen Bezugspersonen nicht, Tagesmama, Erzieherinnen, Großeltern, Eltern von Freund_innen). Dieses Gefühl ist fies und ich war nie eine von den Müttern, die übervorsorglich waren. Aber inzwischen bin ich an der Stelle empfindlicher und verletzlicher.
Ich mag dich da sehr sehr trösten und nochmal sagen: er selbst kannte es nicht anders – seine Körpersysteme haben Möglichkeiten gefunden sich anzupassen. Vielleicht zeigt sich später, dass er sehr gut räumlich denken kann, sich Dinge sehr gut merken und vorstellen kann oder dass er ein sehr gutes taktiles Empfinden hat – Blindheit/ wenig Sehschärfe bedeutet nur „wenig Schärfe“ und nicht „nichts“.
Danke für diesen Kommentar. Ich bin mir sicher, dass Minime gut zurecht kam, sonst wär uns ja was aufgefallen. Allerdings ist dieser schale Geschmack, mein Kind vielleicht nicht GUT GENUG wahrgenommen zu haben, nicht so leicht weg zu wischen…
alles gute für minime. und für dich! du bist super ❤
danke fürs aufschreiben! (das kind und ich gehen am montag zur augenärztin. laut test sieht es tendenziell schlecht. laut eigenwahrnehmung ist alles bestens. hm …)
Ja, das mit der Eigenwahrnehmung ist halt schwierig, wenn sie nichts anderes kennen. Und viel Erfolg am Montag, wird schon (so oder so)
Liebe Melanie,
als meine Tochter drei Jahre alt war, gingen wir mit ihr zum Augenarzt, weil sie beim Fernsehen vermehrt blinzelte. Ergebnis: Ein Auge 20 %, das andere 60 % Sehkraft. Niemand hatte etwas bemerkt. Aber ich werde nie den Moment vergessen, als sie zum ersten Mal ihre Brille aufsetzte. Ihr gingen die Augen wortwörtlich auf und ein Strahlen kam dazu. Wenig später in der Drogerie bekamen wir dann einen Eindruck, wie neu die Welt plötzlich für sie war, als sie sich nach nur zwei Minuten im Laden völlig überfordert an mich drängte. Inzwischen (mit 9) hat sie auf dem „guten“ hat sie auf einem Auge 0,5 und auf dem anderen 1,5 Brillenstärke.
Der Bruder hatte beim ersten Sehtest im gleichen Alter total gute Augen. Zwei Jahre später plötzlich 3,5 beidseitig. Nun denn, er nahm es gelassen und bezeichnet uns seitdem als Brillenfamilie (hab auch eine für die Arbeit am Computer).
Das kommt also in den besten Rabenelternfamilien vor.
LG Tina
Mir ist nicht klar, wie man überhaupt merken kann oder soll, dass ein Kleinkind auf einem Ohr schlecht hört, wenn das andere Ohr das doch ausgleicht und das Kind im Alltag auf akkustische Signale reagiert?
Und ich hab als als Tochter einer Augenärztin als Kind mit den Aufklebern und Materialien gespielt, mit denen Kindern die schielen oder nicht auf beiden Augen gleich gut sehen, ein Auge oder Brillenglas abgeklebt wird. In meiner Wahrnehmung ist das etwas sehr alltägliches, dass dies bei Untersuchungen festgestellt und dann darauf reagiert wird.
Oh nein, mach dir da keine Vorwürfe. Zum einen ist ein Kindergehirn wirklich sensationell in seiner Flexibilität. Und zum anderen ist ’scharf sehen‘ ein Begriff, den Wissenschaftler mit Messmethoden definiert haben. Dein Kind hat sich weder an seinen Ohren, noch an seinen Augen gestört. Das war alles ganz normal für ihn. Mit Sicherheit dramatisieren Ärzte auch, denn ganz ehrlich – meine Mutter lebt mit der selben Augenproblematik, wie dein Sohn, fährt Auto und hat keinerlei Einschränkungen in ihrem Leben, keinen Eintrag im Führerschein, auch als sie mit 50 Motorradfahrer lernte. Klar, Brille muss sein, mein Mann hat auch diese Werte nur bei Kurzsichtigkeit. Wichtig ist, dass der Bub in der Schule alles von der Tafel erkennen kann. Daran hat man das früher bei Kindern gemerkt, wenn sie in der Schule nicht von der Tafel abschreiben konnten. Ihr seid so früh dran, da kann das Gehirn noch ausreichend dran arbeiten, wenn ihr nun Korrekturmaßnahmen macht. Mit den Ohren genauso. Ob das je aufgefallen wäre? Vielleicht beim Gesundheitscheck, wenn er Pilot werden wollen würde. Aber sonst? Bei Kleinkindern stellen solche Sachen keine Probleme dar – messbare Fehler, solange sie nicht wirklich beeinträchtigend sind, wie Sehkraftverlust auf beiden Augen.
Unser Zahnarzt meinte, die Große habe einen etwas kleinen Oberkiefer, ob wir damit zur Kieferorthopädin wollten. War ich, die kam gleich mit ner Spange. Hab ich abgelehnt für ein so kleines Kind. Hab gesagt, allerhöchsten Logopäde mit Übungen, bei denen die Zunge den Kiefer anregt. Die hat sich furchtbar aufgeregt. Da hab ich gesagt, dann komm ich halt in 2 Jahren wieder und wenn bis dahin was erkennbar sei, was kein kosmetisches Problem, sondern ein echtes medizinisches Problem sei, kann sie weitere Empfehlungen machen.
Also Brille braucht der Bub vielleicht auch für Schule etc. Das mit den Ohren ist eine Überlegung wert. Eine OP ist ja kein Spaß und wenn er kein Problem hat, dann gibt es vielleicht kein dringendes Problem und man kann da auch noch später eingreifen.
Ach und das Schielen, tja, da ist die Frage, wächst sich das aus? Wie stehen die Chancen denn wirklich?
Aber auf keinen Fall brauchst du dich fühlen, als hättest du was falsch gemacht. Hast du kein bisschen.
Also, er hatte ja auf beiden Augen Sehkraftverlust, auf einem Auge war nur noch 10% Sehkraft ohne Brille (wovon eben das Schielen rührte, das jetzt mit Brille weg ist). Die OP haben wir machen lassen und da fand ich beide Ärzte schon recht vorsichtig, diehaben uns ja ein paar Mal noch nach Hause geschickt. Weil das hängt ja auch davon ab, ob grade SChnupfenzeit ist oder andere Sachen wichtig sind. Aber ein zweijähriges Kind das schlecht hört, hat es auch mit dem Sprechen lernen schwerer. Also es war schon alles ok so, ich bin einfach nur überrascht, dass wir selber nichts gemerkt haben
Puh das ist echt heftig, ich wäre da genauo geschockt gewesen und kann den Klumpen im Bauch nachvollziehen. Aber Dein Sohn hat das alles unwissentlich kompensiert, das konnte man nicht von alleine rausfinden. Zum Glück wisst ihr jetzt Bescheid und es geht ihm gut, das ist alles, was zählt <333
LG
Séverine
Ja, das ist es 🙂
Hallo! Ich selber trage Hörgeräte seit ich 4 Jahre alt bin, meine (offenbar angeborene) Schwerhörigkeit hat auch vor einem Kinderarzt niemand bemerkt (ich habe früh und viel Gesprochen) und ich selber hatte auch überhaupt kein Problembewusstsein. Wie oben schon steht, für das Kind ist es erstmal „normal“ und nicht irgendwie schlimm – insofern würde ich das keinesfalls als elterliche Unaufmerksamkeit interpretieren. Bevor ich eben deinen Text las, wäre ich darauf niemals gekommen, dass mensch es überhaupt so sehen könnte. Also mach dir da mal nicht zu viele Sorgen!
Danke Dir. Ja vielleicht ist es für die Kinder wirklich „normal“ aber es fühlt sich trotzdem seltsam an, sowas nicht zu merken
Das glaube ich dir, aber ich wäre wirklich niemals in meinem Leben (ich bin 26 und habe 22 Jahre mit Hörgeräten verbracht) auf die Idee gekommen, zu denken, meine Mama (die damals die Hauptversorgungsperson war) habe irgendetwas übersehen oder nicht genug auf mich geachtet! Wie hätte sie es merken sollen? Ich hab immer viel geredet und alles 😉
Bitte rede dir sowas nicht ein! Ich lese schon länger und gerne in deinem Blog und bin der Überzeugung, dass du die beste Mama bist, die deine beiden Jungs haben können! Dein Kind hatte ja keinen „Leidensdruck“, sonst hättest du es sofort gemerkt! Also: Alles gut und nicht verrückt machen lassen!
also mein Sohn 1 hoerte so schlecht, der Arzt meinte, er waere perfekt im Lippenlesen….ich habe nix gemerkt, nur wenn er eine Mittelohrentzuendung hatte…..Sohn 2 sass in der Schule in der letzten Reihe und sprach nicht mehr mit der Lehrerin. Er brauchte eine Brille. Ich hatte gar nix gemerkt. Wir standen 100 vor einem Stopschild und fragte ihn, was drauf steht…er antwortete Welches Schild ???? Das zu dem Thema!!! Es passiert uns Allen, weil die kids einfach writer funktionieren !!!Kopf hoch…. Welcome to the club:-)
Beruhigend 🙂
bloedes autocorrect…ich meinte 100m……und weiter nicht writer
meine mutter ist gehörlos und daher bin ich mit dem thema ein bisschen vertraut. ich kann dir versichern, dass solche hörschwierigkeiten ganz ganz oft nicht oder erst spät per zufall entdeckt werden.
und wie es scheint ging es minime ja die ganze zeit ziemlich gut mit dem allem. ♥
ich kenne mehrere ähnliche Fälle, was das Sehen oder auch das Hören anbelangt (meine Schwester ist Orthoptistin). Es ist also überhaupt kein Einzelfall und es hat ja Gründe, weshalb man die Untersuchungen machen lässt, weil es eben sehr schwer zu erkennen ist. Ich finde nicht, dass Ihr Rabeneltern seid.
Bei meinem Freund wurde die mangelnde Sehschärfe erst in der Schule festgestellt und da auch schon 7 Dioptrien. Aber das ist eben schon über 40 Jahre her. Und seitdem gibt es eben mehr Untersuchungen, weil es sehr schwer ist, das aus dem Alltag heraus zu erkennen. (und aus ihm ist auch was geworden 😉
Ja, ich weiß die Untersuchungen, also die „verpflichtenden“ inzwischen auch sehr zu schätzen
Liebe Melanie,
vielleicht ist es für Sie auch ein wenig tröstlich, dass selbst Kinderärzte Hörprobleme erst relativ spät diagnostizieren können. Das Zeitfenster für den Spracherwerb bietet hier einfach weite Grenzen und man muss nahezu Expertenwissen im Bereich Artikulation besitzen. Mir fiel auf, dass unser Jüngster keine Schwasilben etc. artikulieren konnte – mich hat niemand ernstgenommen. Er war zwei, schien alles perfekt zu hören und erst bei der pädaudiologischen Untersuchung kam ans Licht, dass seine Trommelfelle nicht schwingen. Das können Sie wirklich selbst kaum merken, denn es sind ja nur bestimmte Frequenzen betroffen, oder es fehlt nur ein Teil der Hörfähigkeit (ich verkürze ganz grob). Machen Sie sich keine Vorwürfe, Sie haben dann ja alles getan, und in dem Alter holen die Lütten das locker auf.
Alles Gute Ihnen und ihrer Familie
Hannah
Dankeschön, es ist beruhigend zu wissen, dass das keine Ausnahme ist!
Ach du meine Güte! Ich dachte gerade, wer schreibt denn da von unsrer Geschichte? Das kann doch wohl nicht sein?!?!! Aber hej, die Werte sind ein ganz klein wenig anders…
Aber erst die Sache mit dem Ohr, dann die Diagnose mit den Augen, der Weitsichtigkeit und die Liebe zu Büchern! Ich kenne das Gefühl. Aber weißt du was? Mir hilft der Gedanke, und auf den bin ich sogar selber gekommen, dass die Beziehung zu meinem Kerl1 so gut war und ist, dass wir diese „Dinge“ kompensieren konnten. Unterstützt in dieser Annahme hat mich mal unsere Logopädin. Ob sie sich daran noch erinnert? Ich glaube nicht. Sowas vergisst man als Mama aber einfach nicht.
Es folgt: Du und dein Minima, ihr scheint eine ziemlich gute Beziehung zueinander zu haben. (Ach ja, und den Flüstertest – hihihi – den kenn ich auch… :D)
❤