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Wie ein kleiner Internethype mich zum Nachdenken brachte

Irgendwann Ende letzter Woche startete ein neuer Internethype. Zumindest schien es in meiner twitter-Timeline so.

Tellonym ging an den Start. Dort kann man sich registrieren, den Link zu seinem Profil posten und dann Warten. Auf anonyme Kommentare. Wie bitte? fragt ihr vielleicht…also nochmal: Man registriert sich dort mit einem Benutzernamen und der E-Mail, dann postet man den Link zum Profil auf twitter oder Facebook und sagt in etwa: Hey, schreibt mir mal was ihr mir immer schreiben wolltet! Tja, warum sollte man das tun? Sowohl ein Profil dort anzulegen als auch – jemandem was zu schreiben.

Ich gebe zu: Ich bin relativ schnell auf den Zug aufgesprungen. Die ersten Erfahrungen mit tellonym waren jedenfalls nach dem was ich gelesen hab positiv-überrascht. Und dann dachte ich, ich probiers. Und ja, es kamen tatsächlich sehr nette Kommentare.  Ich wunderte mich etwas, nicht weil die Kommentare nett waren, sondern weil sie jetzt auch nicht sooo spezifisch waren, dass man denken könnte, jemand könnte so was nicht „in echt“ sagen. Also leider kamen keine Geständnisse wie „damals in der 7. Klasse fand ich dich soooo toll aber hab mich nicht getraut was zu sagen“

Und dann dachte ich: Ich schreib jede_r/m der einen Link zu tello postet direkt auf twitter was Nettes, ganz unanonym. Und dann fand ich auch das wieder doof. Und fing laut an zu denken. Also auf twitter. Und um das mal ein bisschen zu strukturieren sammel ich hier mal die Pro/Cons sowohl für tellonym als auch für „offen gezeigte Liebe“

Pro Tellonym:

Warum sagt man anderen Leuten (nette) Dinge lieber anonym als in echt? Und warum freut man sich drüber?

Also mir fiel es auf tellonym leichter auch Leuten nette Sachen zu sagen, die ich sonst nicht so gut kenne. Ich finde es bei Komplimenten immer schwer, ins Schwarze zu treffen. Ein gutes Kompliment ist für mich eins, dass die Person auch wirklich gut umschreibt.

Jemandem anonym was Nettes zu schreiben bietet einerseits die Gewissheit, dem anderen eine Freude gemacht zu haben. Andererseits gibt es einer auch die Sicherheit, dass das Gegenüber sich nicht genötigt fühlt zu antworten. Wer weiß,  vielleicht kennt mich dieses Gegenüber kaum, hat mich (wenn wir jetzt hier bei twitter bleiben) noch gar nicht zur Kenntnis genommen oder findet mich eigentlich doof? Dann sagt man da offen auf twitter was man so toll findet und das andere Menschi da weiß gar nicht wer Du bist? Tellonym bietet halt einfach ein bisschen die Möglichkeit Nettes zu sagen ohne den anderen in Verlegenheit zu bringen, selber zu reagieren, geschweige denn, selber was Nettes sagen zu müssen.

So war es nämlich auch ein bisschen bei den wirklich netten Komplimenten die mir einige schrieben: Alles Menschen die ich wirklich gerne mag, aber so spontan aus dem Stegreif was Nettes zu erwidern – puh, das erforderte einige Anstrengung meiner Gehirnzellen. Nur ein bisschen und ich glaube ich habe immer eine passende und wirklich Ernst gemeinte Erwiderung finden können. Ich  musste auch ein bisschen grübeln, denn offensichtlich bin ich selber nicht so die überschwenglichste in Sachen Komplimente verteilen. Und so finde ich es einerseits schade, dass sich viele nur in der Anonymität trauen, was Nettes zu sagen, kann es aber auch sehr gut verstehen. Und: vielleicht ist es auch das:

Viele sagten dann: Aber ich sag immer offen was Nettes! Für manche braucht es aber vielleicht einen Anlass. So wie ich den Mann auch meistens ganz nett finde, ihn aber nicht jeden Tag zum Essen einlade, sondern nur am Jahrestag, oder seinem Geburtstag…falls ihr versteht (nein, um was nettes zu sagen brauchen der Mann und ich wirklich keinen Anlass, aber nicht jedem steh ich so nahe).

Und jetzt zu den „Gegenbewegungen“: Einige – ich auch – gingen dann in die Vollen und wollten ihre Nettigkeiten lieber direkt sagen. Fand ich am Anfang auch ne gute Idee…

#Tellosönlich #Opentell #tellopen

Diverse Hashtags (das sind diese Worte mit dem # davor ^^) kamen auf. Welches sich jetzt zuletzt durchgesetzt hat weiß ich nicht. Dort sagen also (ich bin immer noch auf twitter) Leute anderen nette Dinge. Ganz offen. Wie gesagt, am Anfang fand ich eine schöne Idee…

Dann klopfte (hier herzzerreißendes gif einsetzen ) mein komplexbehaftetes, selbstmitleidiges früheres Teenie-Ich an, dass in den frühen 90ern den anderen Kids beim Sammeln und Verteilen von Diddl-Karten zusah. Für die, die den Hype nicht mitbekamen: Diddl-Karten waren so eine Art Währung jugendlicher Zuneigung unter – hauptsächlich – Mädchen. Ich beobachtete sehr genau, wer wie viele Diddl-Karten bekam und von wem. Zwei Dinge stellte ich damals ebenso wie bei #tellopen fest:

  1. Der Teufel scheißt auf den größten Haufen.

Die Klassenlieblinge waren schon beliebt und bekamen ihre Zuneigung in Diddl-Karten noch mal ausgezahlt. Ist logisch und nicht meine Kritik, ich finde es einfach nur ein wenig…redundant.

2. Die meisten stehen ungesehen am Rand und gucken zu.

Ja, verdreht ruhig die Augen oder glaubt aus mir spreche der Neid. Aber seid beruhigt: Ich habe meinem früheren Ich über den Kopf gestreichelt und ihm gesagt, dass hat nichts mit Dir zu tun (jedenfalls nicht das, was man mit 12 so denkt). Aber zum einen denk ich: Puh, wen vergess ICH denn, wenn ich jetzt versuche meiner Timeline gerecht zu werden und allen, die ich mag, was Nettes zu sagen? Die Wahrscheinlichkeit, dass ich grade die vergesse, die leise Töne anschlagen ist sehr hoch. Dabei fände ich es nur gerecht, nein nötig, den Introvertierten und leisen mal ganz  laut zu sagen, wie sehr sie meine Timeline bereichern.

Wie fühlen sich all die, die warum auch immer grad am Rand stehn und zugucken? Auch da kann man Einwände gegen bringen oder die Augen verdrehen, aber mir macht das Bauchschmerzen.

Und wie viel Zeit geht dabei drauf? Wenn ich wirklich allen was Nettes schreiben wollte?

Und zuletzt auch die Frage: Was will ich eigentlich zeigen/beweisen, wenn ich auf diesem Wege, also ganz öffentlich Komplimente mache? Nicht dass ich hier allen niedere Beweggründe unterstelle, überhaupt nicht, aber will ich damit nicht auch ein bisschen Aufmerksamkeit auf mich lenken? Mich beliebt machen? Nein, das ist es nicht bei allen, aber ganz ausschließen kann mans wohl auch  nicht hier und da.

Hass durch tello?

Einige äußerten Besorgnis, dass negative Kommentare grade durch die Anonymität gefördert werden. Grade diejenigen, die damit auch bereits Erfahrung gemacht haben. Mein Eindruck ist: Ja, doofe Kommentare und Beleidigungen gab/gibt es auch, aber eine große Hasswelle hat es meines Wissens nicht gegeben. Dazu diesen tollen tweet und folgende:

Und jetzt wäre ich gespannt: Könnt ihr die Gedanken nachvollziehen? Oder klingt das für euch nach Teenie-mimimi? Seid ihr selber eher sehr ausdrucksstark was Komplimente und Nettigkeiten angeht oder fällt es euch selber schwer, Positives zu äußern? Wirklich, mich interessiert dieses Phänomen!

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